"Sie brauchen keine Krankschreibung. Sie können morgen wieder arbeiten gehen."

Gestaffelter Mutterschutz nach Fehlgeburten

Ein Satz, der so vieles ausgelöst hat. Eine Ärztin sagte ihn zu mir kurz nach meiner Ausschabung im Krankenhaus. Einen Tag zuvor hatte ich in der zehnten  Schwangerschaftswoche mein Baby verloren. Erst dachte ich, ich wäre einfach ein unglücklicher Einzelfall. Hätte einfach Pech mit der Ärztin gehabt. 

Dann begann ich für mein Buch „Jede 3. Frau“ zu recherchieren und führte Interviews mit anderen Betroffenen. Immer wieder erzählten sie von Problemen bei der Ausstellung einer angemessenen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Ich wurde stutzig und begann zu recherchieren, sprach mit Hebammen und Sternenkindvereinen. Da bestätigte sich mein Verdacht. Frauen werden nach Fehlgeburten nicht automatisch krankgeschrieben. 

Gerade bei frühen Fehlgeburten kommt es immer wieder vor, dass Betroffene zu kurz, nur auf Drängen oder gar nicht krankgeschrieben werden. Manche trauen sich gar nicht erst danach zu fragen. Doch fast niemand spricht darüber und in der Politik war diese Schutzlücke für Frauen nach Fehlgeburten kein Thema. 

Das machte mich sehr wütend und so startete ich eine Petition für einen freiwilligen Gestaffelten Mutterschutz nach Fehlgeburten, wurde laut und zwang die Politik dadurch, mir zuzuhören. Nach unzähligen Hintergrundgesprächen, der Aussage vor dem Familienausschuss des Deutschen Bundestags und der Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs mit meiner eigenen  ExpertInnenkommission ist ein Gestaffelter Mutterschutz in Gesetzform nun in greifbare Nähe gerückt. 

Und ich werde nicht lockerlassen, bis er endlich Realität ist. Denn auch heute, jetzt gerade, haben Frauen Fehlgeburten. Und einige von ihnen müssen morgen wieder arbeiten gehen. Das müssen wir ändern.

Ihr wollt mehr zum gestaffelten mutterschutz erfahren?
eine übersicht:

Schätzungen besagen, dass jedes Jahr alleine in Deutschland mehr als 200.000 Frauen betroffen sind (Maurer, Fehlgeburt eine kleine Geburt, Elwin Staude Verlag, 3. Auflage 2021) oder anders: Jede dritte Frau erleidet vor der zwölften Woche eine Fehlgeburt. Die Zahl stammt aus Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Abgeordneten Katrin Helling-Plahr, Michael Theurer und Grigorios Aggelidis sowie weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP aus dem August 2020.

Frauen steht nach einer Fehlgeburt kein Mutterschutz zu

  • Was kaum jemand weiß: Eine Frau wird nach einer Fehlgeburt aber auch nicht automatisch krankgeschrieben
  • Es unterliegt der subjektiven Einschätzung der/s behandelnden Ärztin/Arzt ob und für wie lange sie/er eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellt
  • Viele Betroffene bekommen keine oder nur eine zu kurze Krankschreibung oder müssen mehrere Praxen „abklappern“ um eine zu erhalten
  • Auch einen Kündigungsschutz erhalten Frauen erst bei einer Fehlgeburt nach der 12. Schwangerschaftswoche

Aktuell steht Frauen nach Fehlgeburten, also Geburten bei denen Babys keine Lebensmerkmale gezeigt haben, deren Gewicht weniger als 500 Gramm betrug, und die Geburt vor der 24. Schwangerschaftswoche erfolgte, kein Mutterschutz zu.

Auch der Änderungsvorschlag im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung, der die 20. Schwangerschaftswoche als Grenze vorsieht, ist unzureichend. All den Frauen, die bereits in der 19. Woche (das ist der 5. Schwangerschaftsmonat) oder früher eine Fehlgeburt hatten, steht weiterhin keinerlei Mutterschutz zu. Außerdem gibt es keinerlei medizinische oder rechtliche Begründung, die die 20. Woche erklärbar macht und die harte Grenze führt zu überflüssigen Ungerechtigkeiten, wie weiter unten erläutert. Das geht besser.

Es gibt nicht viele (und kaum deutschsprachige) Studien zu den Auswirkungen von Fehlgeburten, aber ein Zusammenhang zwischen Fehlgeburten und Depressionen konnte bereits in internationalen Studien nachgewiesen werden (Interessanter Artikel hierzu: Katapult Magazin vom 14.6.22)

Von Frauen zu verlangen, nach einer Fehlgeburt einfach so weiter zu funktionieren, kann nachhaltige psychische Folgen haben. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels kommt es so zu langwierigen Ausfällen von Arbeitskräften.

 

Außerdem sollten Frauen das Recht haben, körperliche Auswirkungen der Schwangerschaft und Geburt (Blutungen, Milcheinschuss, etc.) in einem kleinen Wochenbett auszukurieren (siehe Aufsatz Zorah Schardt „Fehlgeburt ist auch Geburt“).

 

Auch der psychische Druck spielt eine große Rolle: Eine Frau, der kein Mutterschutz zusteht, das Gefühl hat, sie „muss“ wieder arbeiten gehen. Stichwort Pflichtbewusstsein gegenüber dem Arbeitgeber/der Arbeitgeberin.

Entsprechende Aussagen hören wir von Betroffenen immer wieder. So zwingen sich viele Frauen zu funktionieren, auch wenn sie eigentlich noch gar nicht in der Lage dazu sind. Ein Gestaffelter Mutterschutz würde diesen Druck mindern, weil die Frauen die grundsätzliche gesellschaftliche Berechtigung erhalten, sich eine Regenerationszeit zu nehmen, wenn sie es möchten.

Fehlgeburten sind nicht selten: Laut Informationen des Deutschen Bundestags erleidet jede dritte Frau vor der zwölften Woche eine Fehlgeburt.

Warum ist das Thema dennoch so wenig präsent?

Kein Small-Talkthema:

Nur wenige Frauen sprechen darüber à zu groß oft die Scham, die „Eine“ zu sein, die ihr Baby nicht halten konnte, das gesellschaftliche Bild spiegelt eine andere Realität vor („Die einfachste Sache der Welt“), oder die Befürchtung andere mit dem Erlebten zu belästigen (“Das will doch eh keiner hören“)

Auch in Wissenschaft und Politik ist das Thema unterrepräsentiert:

  • Es existieren auffallend wenige Studien zu Fehlgeburten (es gibt nicht einmal eine offizielle Statistik, wie viele Fehlgeburten es jedes Jahr in Deutschland gibt)
  • Thema in der Politik kaum präsent: Einbeziehung von betroffenen Familien bisher vernachlässigt, siehe auch beim Thema PartnerInnenfreistellung nach Geburt. Auch nach Fehlgeburten angedacht?; Keine Kampagnen zur Aufklärung; keine Bestrebungen das Thema im Medizinstudium mehr zu berücksichtigen, etc.

Meine forderung: Das Angebot eines gestaffelten mutterschutzes

Was ist der gestaffelte mutterschutz nach fehlgeburten?

  • Der Gestaffelte Mutterschutz schützt Frauen auch schon nach frühen Fehlgeburten
  • Der Gestaffelte Mutterschutz baut sich entsprechend der Anzahl der Schwangerschaftswochen auf
  • Er soll als freiwilliges Angebot gestaltet werden: Jede Frau kann selbst entscheiden, ob sie ihn in Anspruch nehmen möchte oder nicht

Warum eine Staffelung?

  • Wir wollen die aktuelle harte Grenze des Mutterschutzes weicher gestalten
  • Eine Frau, die bisher Ende der 23. SSW in die Praxis geht und erfährt, dass ihr Baby tot ist, hat keinerlei Anspruch auf Mutterschutz, eine Frau, die nur 24 Stunden später, am ersten Tag der 24. Woche dieselbe Diagnose erhält, hat dagegen Anspruch auf 18 Wochen Mutterschutz (Verlängerter Mutterschutz wegen Frühgeburt)
  • Eine Staffelung würde diese Grenzen aufweichen und mehr Gerechtigkeit bringen

Es geht bei der Staffelung nicht um hohe Wochenzahlen von Beginn an, deswegen eine sich aufbauende Staffelung.

Beispiel einer Staffelung in Rücksprache mit betreuenden Hebammen:

Man könnte bei Fehlgeburten im ersten Trimenon eine pauschale Schutzfrist von zwei Wochen einführen. Dies wäre in den meisten Fällen auch die Dauer einer Krankschreibung (so sie denn ausgestellt wird).

Mit der 12. Woche könnte man die Schutzfrist auf drei Wochen anheben und ab der 14., 15. oder 16. Woche (z.B. spätestens hier keine Ausschabung mehr möglich) weiter anheben, bis zu den aktuell geltenden 12 bzw. 18 Wochen.

Die genaue Staffelung sollte hierbei von einer ExpertInnenkommission erarbeitet werden. Da sich die Regierung im Koalitionsvertrag bereits auf eine Vorverlegung der Schutzfrist auf die 20. Woche geeinigt hat, könnte man dieses „Guthaben“ an zusätzlichen Mutterschutzwochen auf eine Staffelung umverteilen und so alle werdenden Mütter mitnehmen und das Signal aussenden, dass alle von ihnen gesehen und geschützt werden. Wie es Artikel 6 Absatz 4 des Grundgesetzes vorsieht.

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Das aktuelle Mutterschutzgesetz verstößt gegen das Grundgesetz

Das aktuelle Mutterschutzgesetz verstößt gegen gleich zwei Artikel des Grundgesetzes.

 1.      Schutz der Mutter: Artikel 6 Absatz 4

Vom Schutz der Mutter in Art. 6 Abs. 4 GG ist auch umfasst, wessen Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt endet. Denn der in Art. 6 Abs. 4 GG gewährte Schutz bezieht sich auf die Belastungen der biologischen Mutterschaft, die bereits die der Schwangerschaft einschließen und auch nicht entfallen, wenn am Ende der Schwangerschaft kein lebendes Kind geboren wird.

Mutter i. S. d. Art. 6 Abs. 4 GG ist nicht nur, wer ein lebendes Kind geboren hat. Bereits werdende Mütter sind vom Schutz des Art. 6 Abs. 4 GG umfasst. Dies hält das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss von 2015 fest.

 2.      Allgemeiner Gleichheitssatz: Artikel 3 Absatz 1

§ 3 Abs. 2 bis 4 MuSchG verletzt die Rechte betroffener Frauen in ihren Rechten aus Art. 3 Abs. 1. i. V. m. Art. 6 Abs. 4 GG. Denn entlang der Zeit- (24. SSW) und Gewichtsgrenze (500 g der Leibesfrucht) zu unterscheiden, ob nach Ende einer Schwangerschaft Schutz- fristen gewährt werden, ist eine unverhältnismäßige Ungleichbehandlung, die verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden kann.

Dies gilt jedenfalls bei Fehlgeburten nach der 12. SSW, bei denen der Gesetzgeber in § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MuSchG erkannt hat, dass sie einem besonderen Schutzbe-dürfnis unterliegen und daher einem Kündigungsschutz unterliegen. Warum die Frauen zwar für vier Monate nach einer Fehlgeburt nach der 12. SSW einem Kündigungsschutz unterfallen, gleichzeitig aber noch am Tag der Fehlgeburt wieder arbeiten gehen müssen und keiner nachgeburtlichen Schutzfrist unterliegen, ist nicht erklärbar und ein nicht auflösbarer Widerspruch. Diesem könnte mit früheren Schutzfristen, die der Gesetzgeber gestaffelt nach Dauer der Schwangerschaft ausgestalten kann, begegnet werden.

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Perspektivenwechsel: Die Frau im Fokus.

Denn was oft vergessen wird: Es darf nicht nur alleine das Kind im Mittelpunkt stehen, auch die Frau muss in den Fokus gestellt zu werden. Egal ob ein Kind bereits lebensfähig ist oder nicht, die Frau ist/war in jedem Falle schwanger und es folgt eine Geburt, auf welchem Wege auch immer.

Es geht beim Mutterschutz um den Schutz der Mutter, um die Frau, die schwanger war.

Eine Frau, die in der 20. Woche gebärt und das Kind atmet drei Mal, erhält Mutterschutz, da das Kind kurz gelebt hat. Eine Frau, die in derselben Woche gebärt, aber ihr Kind atmet nicht, erhält keinen Mutterschutz. Beide waren genau gleich lange schwanger, haben dieselben hormonellen Umstellungen, Milcheinschuss, usw. Aber die eine erhält Mutterschutz, die andere nicht. Das ergibt keinen Sinn.

Sobald eine Schwangere die Diagnose erhält, dass das Herz des Kindes in ihr nicht mehr schlägt, fällt sie in unserem Gesundheitssystem auf der Prioritätenskala nach hinten. Ob fehlende Aufklärung zu den medizinischen Möglichkeiten, große Verzögerungen bei Terminen z.B. für Kürettagen, oder mangelnde Bereitschaft zur Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Viele Frauen berichten von der Erfahrung, plötzlich Patientin zweiter Klasse zu sein. Hier fehlt es an Wertschätzung gegenüber der Frau und das Bewusstsein, dass Mutterschutz in erster Linie den Schutz der Gebärenden im Auge hat.

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Handlungsbedarf anerkennen und handeln.

Die Realität ist, dass viele Frauen nach Fehlgeburten keine unkomplizierte und angemessene Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erhalten. Das Angebot eines gestaffelten Mutterschutzes würde diese Lücke schließen und Betroffene auffangen ohne sie zu bevormunden. Auch die aktuelle Situation, Glück oder Pech bei der ÄrztInnenauswahl zu haben, wäre abgemildert, denn der Gestaffelte Mutterschutz würde allen Frauen nach der Diagnose Fehlgeburt zustehen.

 Unter der Oberfläche brodelt es und das Tabuthema Fehlgeburt spielt im Alltag vieler Familien eine viel größere Rolle als das oberflächlich betrachtete gesellschaftliche Bild es auf den ersten Blick glauben macht. Frauen nach Fehlgeburten sind nicht laut und gehen auf die Straße um für ihre Rechte zu kämpfen. Sie trauern meist leise, leiden still und werden von der Politik übersehen. Das darf nicht sein.

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Die Gesetzeslücke beim Mutterschutz bedarf am dringlichsten einer Änderung, aber es darf nicht die einzige bleiben.

Siehe auch das Dokument Forderungskatalog von Natascha Sagorski und Daniela Nuber-Fischer.

Eine kurze Übersicht weiterer dringend erforderlicher Maßnahmen:

  • Einführung einer Leitlinie zum Umgang von Frauen mit Fehlgeburten in Kliniken und Praxen (keine Verlegung auf Wöchnerinnenstation, abwartendes Management als adäquate Methode zur Kürettage, Aufklärung über medizinische Möglichkeiten und Rechte, Einführung eines DRG-Codes für Fehlgeburten ohne Ausschabung, etc.
  • Bundesweite Aufklärungskampagne: Allgemeinwissen zu Fehlgeburten schaffen: Broschüre in Praxen und Kliniken (Frauen über Rechte aufklären, wie bspw. Anspruch auf Hebammenbetreuung, Kündigungsschutz, medizinische Möglichkeiten, Anlaufstellen, Möglichkeiten der Bestattung, usw.)
  • Erhebung der Zahlen: Wie viele Fehlgeburten finden in Deutschland tatsächlich statt
  • Förderung von deutschsprachigen wissenschaftlichen Studien zum Thema Fehlgeburten
  • Mehrmonatiger Kündigungsschutz nach Fehlgeburt bereits vom Zeitpunkt der ärztlich bescheinigten Schwangerschaft an
  • Aufklärung und Schulung der GynäkologInnen und Hebammen im Studium und darüber hinaus: Fehlgeburten als festen Bestandteil der
    Lehre
  • Aufnahme von Fehlgeburten in die Lehrpläne im Rahmen des Aufklärungsunterrichts an Schulen à Aufklärung um künftigen Genrationen das „Ich bin schuld und ich bin die Einzige“-Schamgefühl zu nehmen und medizinisches Wissen zu verankern (welche Arten von Fehlgeburten gibt es, welche medizinischen Möglichkeiten, Ausschabung versus abwartendes Management, etc.)


Der Gestaffelte Mutterschutz darf also nur ein Schritt von vielen sein. Aber er ist ein Anfang, der wichtig und überfällig ist.